Strassenstrich auf dem Rückzug: Schweizweit sinken die Zahlen deutlich

Vom Sihlquai bis Olten prägten früher Lärm, Gewalt, Abfall und Stau die Debatte um den Strassenstrich. Heute schrumpft das Gewerbe sichtbar: In Zürich, Luzern und Olten gehen Bewilligungen und Präsenz zurück. Corona, knappe Budgets und der digitale Wandel verlagern Kontakte ins Private. Städte setzen zugleich auf Schutzorte wie den Strichplatz Altstetten.

Lustmap Redaktion
10. 10. 2025
   © Ralfdix / wikimedia.org

Vor einem Jahrzehnt sorgten die Auswüchse des Strassenstrichs landesweit für Schlagzeilen. Zürich reagierte 2013 auf den Druck der Anwohnenden und schloss den berüchtigten Sihlquai-Strich. In Olten versuchte die Politik mit Halte- und Fahrverboten gegenzusteuern, und auch in Luzern wollte man so Ordnung schaffen. Lärm, Gewalt, Abfall und Stau wurden zum Sinnbild eines Problems, das Städte schnell in den Griff bekommen wollten.

Inzwischen hat sich das Bild gedreht: Der Strassenstrich schrumpft in der ganzen Schweiz. In Zürich verfügten 2020 noch 85 Sexarbeiterinnen über eine Bewilligung für die Strichzonen. Fünf Jahre später sind es nur noch 60 – ein Rückgang um fast ein Drittel, wie die Stadtpolizei festhält. In Olten, wo früher bis zu 80 Prostituierte gleichzeitig präsent waren, hat sich die Zahl mehr als halbiert.

Auch Luzern meldet deutlich weniger Präsenz. «2015 waren jeweils 15 bis 20 Sexarbeiterinnen anwesend, heute sind es noch zirka 10 Personen», sagt Eliane Burkart (38), Geschäftsleiterin des Vereins Lisa, der in Luzern berät. In Zürich beschreibt Beatrice Bänninger (61), Geschäftsführerin von Solidara Zürich, die Lage so: «Auf der Allmend ist fast nichts los, im Niederdorf wenig. Und auch an der Langstrasse ist es ruhiger geworden.»

Den Beginn dieser Entwicklung sieht Bänninger in der Pandemie. Sexarbeit war während Corona monatelang verboten, die frühere Frequenz kam seither nicht mehr zurück – auch die Preise blieben tiefer. Gleichzeitig hat der Digitalisierungsschub im Gewerbe Spuren hinterlassen: «Viele Männer befriedigen ihre Bedürfnisse vermehrt auf dem digitalen Weg», sagt sie.

Hinzu kommt ein wirtschaftlicher Faktor. «Das Portemonnaie sitzt bei vielen Freiern nicht mehr so locker», beobachtet Bänninger. Zwar gibt es weiterhin Sexarbeiterinnen, die gut verdienen. «Dafür nehmen sie teilweise Praktiken in Kauf, die ihre Gesundheit gefährden können.» Beratungsstellen mahnen deshalb zu besserem Zugang zu Gesundheits- und Schutzangeboten.

Weniger Verkehr beim Zürcher Strichplatz ist ein weiterer Indikator. Nach der Schliessung am Sihlquai eröffnete die Stadt den Strichplatz im Industriegebiet Zürich-Altstetten. Auf dem eingezäunten Areal stehen «Verrichtungsboxen», Sicherheitsinfrastruktur und Anlaufstellen bereit. In den Anfangsjahren arbeiteten dort bis zu 30 Frauen pro Nacht, heute sind es noch 13, teilt das Sozialdepartement mit.

Trotz sinkender Auslastung ist eine Schliessung kein Thema. Der Betrieb kostet jährlich 775'000 Franken, doch die Stadt verweist auf den Schutzauftrag: Der Strichplatz biete einer der vulnerabelsten Zielgruppen wirksamen Schutz vor Gewalt und Ausbeutung. Zusätzlich erhalten die Frauen Unterstützung bei der beruflichen Neuorientierung. Weil das Areal voraussichtlich nach 2030 einem Depot der Verkehrsbetriebe Zürich weichen muss, sucht die Stadt bereits einen neuen Standort.

Der sichtbare Rückgang bedeutet nicht, dass weniger Sexarbeit geleistet wird. «Das Sexgewerbe hat sich zunehmend in private Räume verschoben», sagt Melanie Muñoz (50), Leiterin der Fachstelle Lysistrada in Olten, die seit 16 Jahren auf dem dortigen Strassenstrich unterwegs ist. Wer nicht mehr an der Strasse steht, habe die Branche in der Regel nicht verlassen.

Diese Verlagerung bestätigt Eliane Burkart. Zunehmend werde Sex in Privat- oder Airbnb-Wohnungen angeboten, während gleichzeitig die Zahl der Bordelle Erotikstudios sinkt. Die Kundschaft suche stärker Diskretion und Anonymität, so Burkart: Viele recherchieren zuerst online, was den Weg an den Strassenstrich erspart – und die Laufkundschaft ausbleiben lässt. Die Folge: weniger Frauen, die draussen nach Freiern suchen.

Die wachsende Unsichtbarkeit stellt die Beratungsarbeit vor neue Aufgaben. «Die physischen Kontakte sind seltener geworden, wir setzen deshalb auch auf online-aufsuchende Beratung», sagt Muñoz. Lysistrada beteiligt sich an einem Pilotprojekt von Procore, dem nationalen Netzwerk für den Schutz und die Rechte von Sexarbeitenden: Ein Bot durchsucht einschlägige Portale, filtert regionale Inserate und verschickt anschliessend Kontaktangebote mit Informationen und Hilfe.

Die ersten Resultate sind ermutigend: Rund zehn Prozent der angeschriebenen Sexarbeiterinnen reagieren – mit einem Dank oder mit konkreten Fragen zu Rechten, Gesundheit und Sicherheit. Für die Fachstellen ist das ein wichtiger Kanal, um auch jene zu erreichen, die sich aus dem öffentlichen Raum zurückgezogen haben.

Was bedeutet das für die Zukunft? Vieles spricht dafür, dass der Strassenstrich zum Auslaufmodell wird – Digitalisierung, veränderte Nachfrage und der Wunsch nach Anonymität beschleunigen den Trend. «Darauf wetten würde ich nicht», relativiert Muñoz. Und auch Burkart warnt vor voreiligen Schlüssen: «Der Strassenstrich ist ein spezielles Setting, das bestimmte Kunden gerade wegen des Ambientes gezielt aufsuchen.»

Für die Städte bleibt die Aufgabe zweigleisig. Einerseits geht es um Ordnung und Sicherheit im öffentlichen Raum, inklusive Schutzangebote wie in Altstetten. Andererseits braucht es neue Wege, um die verlagerten, oft unsichtbaren Arbeitsorte zu erreichen – online, in Privatwohnungen und in temporären Unterkünften. Der Druck auf die Strasse mag nachlassen; die Fragen zu Beratung, Gesundheit und Ausbeutung stellen sich jedoch unverändert.