Vom Strassenstrich ins Netz: Die neue Lust an der Selbstvermarktung

Mit Sex lässt sich längst nicht mehr nur auf der Strasse Geld verdienen. Plattformen wie Sexy.ch versprechen Selbstbestimmung und schnelles Geld. Doch wie frei ist die Entscheidung zur digitalen Sexarbeit wirklich – und wo verläuft die Grenze zwischen Freiheit und Druck?

Lustmap Redaktion
11:32
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„Ich werde heute von 100 Männern durchgenommen“, sagt eine junge Frau in die Kamera. Sie lächelt stolz, fast schelmisch, und klatscht in die Hände. So beginnt eine Youtube-Dokumentation, die Ende 2024 viral ging und hitzige Debatten auslöste. „Was für eine verrückte Welt, in der wir leben“, schreibt ein User. „Wie man darin keine Form von Selbstverletzung erkennt, ist mir unbegreiflich“, meint ein anderer.

Niemand hat sie zu diesem „Weltrekordversuch“ gezwungen. Es sei ein Dank an ihre Follower – und sie habe schlicht Freude an Sex, erklärt die Influencerin. Die Aktion war zweifellos extrem. Und sie wirft eine grundsätzliche Frage auf: Kann Sexarbeit wirklich selbstbestimmt sein?

Sexarbeit in der Schweiz
In der Schweiz ist Prostitution seit über 80 Jahren legal. Lustmap hat mit zwei Schweizer Sexarbeitenden gesprochen: Was hat sie in die Branche geführt? Wie erleben sie den Alltag, wenn sie ihren Körper freiwillig anbieten? Und was sagen Fachleute dazu?

Eine der Gesprächspartnerinnen sitzt in einem thronartigen Sessel mitten im Wohnzimmer. Die Perücke ist perfekt frisiert, das Make-up auffällig, die High Heels wippen spielerisch. „Sex, Weiblichkeit, Spass, Geld – das alles gehört für mich untrennbar zusammen.“

Der Name ist ein Künstlername – eine Rolle, in die die 49-Jährige über Jahre für ihre Arbeit als Femboy schlüpfte. Im Alltag lebt sie als Mann – meistens. Die feminine Seite, die sie in ihrer Arbeit betont, war aber schon in der Kindheit präsent. Hormone oder Operationen kamen nie infrage. „Ich bin doch schon eine Frau – wann immer ich das will“, sagt sie. So auch für dieses Interview.

Ihre Geschichte beginnt am Strand von Havanna. Dort geniesst sie die Aufmerksamkeit von Touristinnen und Touristen, wird eingeladen nach Mailand oder Berlin. Die Grenze zum bezahlten Sex beginnt zu verschwimmen, bald wechseln erste Scheine den Besitzer. Sie entscheidet sich, in Deutschland zu bleiben. Arbeitet im Service, besucht Integrationskurse – und bietet gleichzeitig erotische Dienstleistungen an. Als Femboy. Und als Domina.

„Ich konnte meine weibliche Seite ausleben und hatte viel Sex. Intensiven, schönen Sex.“ Von negativen Erfahrungen berichtet sie kaum. „Solange es Spass machte und ich mich nicht bedroht fühlte, sagte ich auch zu extremeren Wünschen Ja – das kostete aber extra.“ Persönliche Grenzen wie Blut, Verletzungen oder das Einbeziehen von Minderjährigen habe sie jedoch stets eingehalten. „Das Wichtigste ist Kommunikation“, betont sie immer wieder. Respektlose Männer sortierte sie bereits am Telefon aus.

Ausstieg in der Pandemie
Sechs Jahre lang war sie auch in Zürich als Domina tätig, bot Massagen und Begleitungen an. Mit Beginn der Corona-Pandemie stieg sie schrittweise aus – wie viele andere konnte sie ihren Beruf nicht mehr ausüben. Als sie ihren Lebensunterhalt nicht mehr finanzieren konnte, wandte sie sich an eine Beratungsstelle. Solche Angebote seien für sie unverzichtbar gewesen. Heute arbeitet sie in der Pflege und ist auch künstlerisch tätig, unter anderem im Theater.

Was sie erzählt, klingt nach einem aufregenden Leben im Sexgewerbe. Doch wie repräsentativ ist ihre Perspektive? Laut Schätzungen stammen 75 bis 85 Prozent aller in der Schweiz tätigen Sexarbeitenden aus dem Ausland – so auch sie. Wie viele dieser Menschen wirklich freiwillig in der Branche arbeiten, ist nicht bekannt.

„Wir beobachten oft, dass vor allem jene Frauen in den Medien sprechen, die ihre Arbeit eher selbstbestimmt ausüben“, sagt die Geschäftsführerin der Frauenzentrale Zürich. „Doch die grosse Mehrheit der Frauen in der Armutsprostitution kommt selten zu Wort.“

Sex unter Marktbedingungen
Prostitution sei Sex unter Marktbedingungen – man biete an, was nachgefragt wird, zum Preis, der dafür bezahlt wird. „Ich will nicht abstreiten, dass es selbstbestimmte Prostitution gibt. Aber wir gehen davon aus, dass das ein verschwindend kleiner Anteil ist.“ Praktiken bestimmen, Preise festlegen, Freier ablehnen oder den Arbeitsort selbst wählen – all das sei nur in Ausnahmefällen möglich. Es brauche einen genaueren Blick auf die Strukturen dahinter: Wer verdient mit? Wer hat die Kontrolle? Ausbeutung und Sexarbeit, so lautet die Einschätzung, seien häufig eng miteinander verknüpft.

Dem widerspricht die Leiterin eines Netzwerks für Sexarbeitende. Es gebe kein klares Entweder-oder. „Selbstbestimmung und Zwang sind kein Gegensatz, sondern bewegen sich auf einem Spektrum.“ Auch eine Fachstelle gegen Menschenhandel schliesst sich dieser Einschätzung an: „Es gibt nicht die eine Form von Sexarbeit.“ Einige hätten gute Bedingungen, hohe Einnahmen und Entscheidungsfreiheit. Für andere sei Prostitution hingegen ein Mittel zum Überleben – oder Ausdruck von Zwangsverhältnissen.

Sexarbeit vor der Kamera
Junge Menschen, die ihre Dienste im Netz anbieten, sind kein neues Phänomen. Eine 32-Jährige etwa arbeitet seit 10 Jahren im Sexgewerbe – zunächst als Stripperin, später als Pornodarstellerin und Cam-Girl auf Sexy.ch. In ihrem Haus in Portugal produziert sie ihre Inhalte selbst. Mal arbeitet sie drei Stunden, mal acht. Sie chattet mit Zuschauenden, filmt sich beim Sex, erfüllt individuelle Wünsche.

„Ich habe vieles abgelehnt, womit ich vielleicht viel Geld hätte machen können“, sagt sie rückblickend. Mit 22 arbeitete sie noch als Kosmetikerin und verdiente wenig. Der Einstieg in einen Stripclub war zunächst ein Experiment. „Aber jede Nacht Party und Halligalli? Gott, nein!“ Der Sex an sich habe aber zu ihr gepasst. Schlimme Erlebnisse habe sie keine gehabt: „Zum Glück! Ich bin auch sehr vorsichtig und lehne vieles ab.“

Vom Drehbuch zur Eigenregie
Anfangs arbeitete sie in klassischen Pornoproduktionen – mit Drehbuch, festgelegten Rollen und meist wenig Mitspracherecht. Erst später wurde ihr klar, dass viele Vereinbarungen kurzfristig geändert wurden und auch Gagen gedrückt werden konnten. Sie entschloss sich, ihre Inhalte selbst zu produzieren. „Ich merkte, dass ich mehr Freude an Pornos habe, wenn ich selbst die Geschichte bestimmen kann.“ Heute dreht sie allein oder mit einem festen Partner.

Ganz ohne Druck sei der Job aber auch in Eigenregie nicht. Während Livestreams würden spontane Forderungen gestellt. „Zum Beispiel: Wenn du mir diesen Extra-Clip schickst, lege ich 100 Franken drauf.“ Gerade junge Frauen würden sich oft vom schnellen Geld blenden lassen – ohne das Geschäft wirklich zu durchschauen.

Doch der Reiz des Neuen verblasst irgendwann – und damit auch die Nachfrage. „Und was machst du danach? Man hat dich dann schon nackt gesehen.“ Viele, so sagt sie, beginnen auf Plattformen wie Sexy.ch oder Onlyfans.com, hören aber ebenso schnell wieder auf.

Was als Selbstbestimmung beginnt, kann schnell in problematische Bahnen geraten – wie im Fall einer bekannten OnlyFans-Darstellerin, die angibt, für ihren Rekord mit jedem Mann nur drei bis fünf Minuten verbracht zu haben. „Das ist nicht mehr normal. Über die Männer, die dabei mitgemacht haben, müssen wir gar nicht erst sprechen“, kritisiert sie. Mit echter Selbstbestimmung habe das wenig zu tun: „Ich glaube, sie wird langfristig Probleme haben, nach so einer Erfahrung.“

Wann Selbstbestimmung ihre Grenzen erreicht
Viele berichten von ihren positiven Erfahrungen im Sexgewerbe – von Geld und Freiheit. Doch auch sie sprechen von Momenten, in denen sie Druck verspürten, ausgegrenzt wurden oder sich einsam fühlten. Erfahrungen, die nachwirken. Ist das noch selbstbestimmte Sexarbeit? Wo zieht sich die Grenze?

Laut einer Expertin gibt es bestimmte Faktoren, die die Verletzlichkeit gegenüber Gewalt und Ausbeutung erhöhen, wie etwa Armut, ein illegaler Aufenthaltsstatus oder Mehrfachdiskriminierung. „In anderen Sektoren wie dem Baugewerbe oder der Landwirtschaft kommt es ebenfalls häufiger zu Menschenhandel als in einem Anwaltsbüro“, betont sie. Das habe also wenig mit der Sexarbeit an sich zu tun. Und: „Auch armutsbetroffene Frauen sind handlungsfähig und nicht einfach Opfer.“

Sexarbeit und Prostitution könnten nicht gleichgesetzt werden mit Menschenhandel, meint auch eine weitere Expertin. „Niemand würde das Baugewerbe oder die Landwirtschaft verbieten“, sagt sie. In der Prostitution sei jedoch die Betroffenheit oft gross, auch weil sexuelle Integrität häufig beschnitten werde. „Den Menschen die Selbstbestimmung abzusprechen, ist aber der falsche Weg“, schliesst sie.

Eine Sexarbeitende möchte ihre Freiheit nicht mehr aufgeben: „Wenn mir etwas nicht passt, gehe ich offline oder blocke den Nutzer.“ In einem Club oder auf der Strasse wäre die Situation jedoch anders.

„Intimität hat für mich nichts mit Nacktheit zu tun. Jede Frau hat eine Muschi und zwei Brüste – das ist nichts Besonderes. Intim sind meine Träume und Ängste. Wenn ich vor einer Person weine und über meine Gefühle spreche – das sehen meine Kunden nicht.“

Sexarbeit kann selbstbestimmt sein, das ist für eine weitere Expertin ebenfalls eine klare Aussage. „Das bedeutet nicht nur, die Beine breit zu machen, sondern ist viel mehr. Es sind ganze Welten, und jeder Mensch hat eigene Bedürfnisse und Fantasien.“ Die von ihr angenommene Rolle verwirklichte diese Fantasien – sowohl für sie selbst als auch für ihre Kunden.

Keine Mehrheit für ein Prostitutionsverbot
Organisationen wie Procore und die FIZ vertreten eine klare Haltung: Politische Vorstösse für ein Verbot von Sexarbeit finden im Bundesparlament bislang keine Mehrheit.

„In unserer Beratung sind die Sorgen der Sexarbeitenden oft sehr konkret: hohe Mieten, Bussen, Probleme mit den Behörden“, sagt eine Expertin. „Aber was fast immer dazukommt, ist die Stigmatisierung.“ Auch wenn Sexarbeit vielleicht nicht für immer der Beruf bleibt, erlebt sie die Arbeitenden als sehr rational und entscheidungsfähig. „Sie wollen legal und unter fairen, menschenwürdigen Bedingungen Geld verdienen. Ihren Job machen, wie alle anderen auch.“