Der verdeckte Drogenstrich am Kreuzstutz in Luzern
Unter der Bahnunterführung beim Kreuzstutz, mitten im Babelquartier von Luzern, wird trotz Sperrzonen weiter Sex gegen Geld vermittelt – oft zur Finanzierung einer Sucht. In Foren berichten Freier über Routen, Preise und riskante Praktiken. Polizei und Stadt kennen die Lage, doch Bussen wirken kaum. Eine HSLU-Studie zeigt Risiken und Schritte der Stadt.
Lustmap Redaktion
11. 11. 2025
© Paradise Chronicle (Wikimedia Commons)
Kreuzstutz-Kreisel in Luzern
In einschlägigen Internetforen fällt seit Jahren derselbe Punkt auf der Karte auf: der Kreuzstutz in Luzern, rund um die Bahnunterführung zwischen Lädeli- und Dammstrasse. Nutzer schildern nächtliche Runden «zum Schauen», fragen nach Tipps für eine erfolgreiche Suche oder berichten von Leerlauf und von Nächten, in denen viel los ist. Erzählt wird von spontanen Ansprachen, kurzen Fahrten an abgelegene Orte und Preisen ab rund 70 Franken. Die Einträge ziehen sich über mehr als ein Jahrzehnt – und tauchen immer wieder neu auf.
Ein altes Phänomen, neue Regeln
Sexarbeit auf offener Strasse ist in Luzern kein neues Thema. Bereits 2011 verschärfte die Stadt die Regeln und setzte Sperrzonen zum Schutz der Anwohnenden fest. Seither ist der Verkauf sexueller Dienstleistungen an Strassenabschnitten mit vorwiegender Wohnnutzung ebenso untersagt wie in der Nähe von ÖV-Haltestellen. Offiziell verbleibt für Strassensexarbeit vor allem der Bereich Ibach. Dennoch wird am Kreuzstutz auch 2025 weiterhin Sexarbeit beobachtet – trotz Verbot und klaren Reglementen.
Stadt und Polizei im Bild
Bei Stadt und Polizei ist die Lage bekannt. Sicherheitsmanager Christian Wandeler sagt, man beobachte seit geraumer Zeit immer wieder Einzelpersonen, die im Kontext der Beschaffungsprostitution auftauchten. Polizeisprecher Urs Wigger bestätigt regelmässige Kontrollen und Begegnungen mit Personen, die mutmasslich Sex gegen Geld anbieten. Von einer festen, grossen Szene wolle man allerdings nicht sprechen. Gleichzeitig habe sich die Praxis verschoben: Verabredungen laufen zunehmend über das Handy, um danach im Auto an ruhigere Orte zu fahren – was die Sichtbarkeit vor Ort reduziert, das Phänomen aber nicht beseitigt. Auch die Situation an der St.-Karli-Brücke habe sich damit etwas beruhigt.
Verlagerung in die digitale Schattenwelt
Die Foren zeigen, wie stark Abläufe ins Digitale wanderten. Neben Erfahrungsberichten kursieren dort Wegbeschreibungen, Codes und Hinweise, wie man diskret vorgeht. Erwähnt werden «verschlüsselte» Kontaktnummern, die rückwärts an eine Mauer gekritzelt werden, damit bekannte Kontakte trotz verlorener oder gestohlener Handys wieder anrufen können. Einsteiger fragen, wohin sie «für das Geschäft» fahren sollen; erfahrenere Nutzer empfehlen, hinzufahren, einzusteigen, loszufahren. Diese informelle Infrastruktur stützt eine Szene, die sich den Kontrollen zunehmend entzieht.
Polizeipräsenz, Meldungen – und begrenzte Wirkung
Wer im Quartier mehrfach durch Unterführung und Kreisel kurvt, fühlt sich beobachtet – in den Foren ist von Zivilfahrzeugen die Rede. Die Luzerner Polizei spricht von hoher Präsenz und schreitet ein, wenn strafbare Handlungen festgestellt werden. Verstösse gegen das städtische Reglement zur Strassensexarbeit werden gemeldet, Bussen ausgesprochen. Doch der Abschreckungseffekt bleibt gering. Im Sicherheitsbericht 2023 hält die Stadt fest, dass drogenkonsumierende Sexarbeitende aufgrund ihrer Notlage durch Verzeigungen und Bussen kaum zu stoppen sind. Hinzu kommt, dass sie im legalen Ibach-Strich von der bestehenden Strassenszene häufig nicht geduldet werden – ein doppelter Ausschluss, der die Verlagerung in verbotene Zonen begünstigt.
Beschaffungsprostitution im Fokus der Stadt
Das Thema beschäftigt Luzern seit Jahren. Neben dem Kreuzstutz werden im Sicherheitsbericht 2023 auch einzelne Fälle beim Bundesplatz erwähnt, teils im Bereich männlicher Sexarbeit. Weil lange belastbare Daten fehlten, beauftragte die Stadt die Hochschule Luzern (HSLU) mit einer Untersuchung. Der seit 2023 vorliegende Bericht schätzt am Kreuzstutz rund acht bis zehn Sexarbeitende. Befragt wurden drei Frauen und ein Mann. Genannt werden vor allem Beschaffungsdruck und die Finanzierung des Konsums als Antrieb. Gleichzeitig berichten die Befragten von unsicheren Arbeitsbedingungen, von fehlender Kontrolle über Abläufe und von einer hohen Gewaltgefahr.
Gewaltberichte, Dumpingpreise, riskante Praktiken
Die Studie dokumentiert drastische Einzelfälle. So wurde eine Frau nach der Verweigerung einer Dienstleistung eine Treppe hinuntergestossen und verlor Zähne. Fachpersonen schildern, wie Entzugsphasen die Verhandlungsposition der Betroffenen schwächen: Dann werden Dienstleistungen für sehr wenig Geld angeboten – in Foren ist gar von «alles» für 20 Franken die Rede. Zudem normalisieren gewisse Beiträge riskante Praktiken wie ungeschützten Sex, abgekürzt als «AO» oder «tabulos». Parallel dazu verbreiten sich entmenschlichende Bezeichnungen, die Grenzen weiter verschieben und Respekt abbauen.
Zwischen Nervenkitzel und Abgrenzung
Für einige Freier liegt der Reiz im schnellen, verbotenen Kick im öffentlichen Raum. Diese Romantisierung blendet die Risiken für die Betroffenen aus. Das Spannungsfeld bleibt: Während die einen bewusst Distanz wahren, suchen andere gezielt nach Orten, Zeiten und «Hotspots». So entsteht eine dynamische, schwer greifbare Lage, die sich je nach Polizeipräsenz, Witterung und digitaler Verabredung rasch verschiebt.
Fehlende Rückzugsräume und der Ausschluss vom Ibach
Die von der HSLU befragten Sexarbeitenden nennen fehlende Rückzugsorte, kaum Zugang zu Hygiene und wenig niedrigschwellige Beratung. Sie wünschen sich vergleichbare Unterstützung wie im Ibachquartier, wo der legale Strassensex organisiert ist – nutzen diesen aber kaum. Gründe: Die Beschaffung von Drogen findet anderswo statt. Der Weg ist weit, und die bestehende Strassenszene in Ibach akzeptiert sie oftmals nicht. So bleibt der Kreuzstutz für manche ein riskanter Kompromiss: nahe an den Substanzen, fern von Schutz und Struktur.
Empfehlungen der Forschung und Schritte der Stadt
Die HSLU empfiehlt, Fachpersonen einzusetzen, die sowohl Sucht- als auch Sexarbeitskompetenz mitbringen, mobile Unterstützungsangebote aufzubauen und den Zonenplan zu überprüfen, um Rechtssicherheit und Sicherheit zu verbessern. Zudem brauche es niederschwelligen Zugang zu Sanitäranlagen, sichtbare Informationen zu Hilfsangeboten und eine engere Koordination zwischen Sucht-, Sozial- und Gesundheitsdiensten. Die Stadt verweist darauf, dass dank der Untersuchung mehr Klarheit besteht und die Empfehlungen schrittweise umgesetzt werden. Die SIP sucht gezielt den Kontakt zu Betroffenen, verweist auf Angebote und baut Vertrauen auf. Projekte an der Lädelistrasse sollen genutzt werden, um den Zugang zu sanitären Anlagen zu verbessern. Auch das Thema Wohnraum für Menschen mit Suchterkrankungen bleibt auf der Agenda. Parallel dazu setzt die Polizei das Verbot der Strassensexarbeit am Kreuzstutz durch.
Ein Ort, an dem sich Not und Verdrängung kreuzen
Trotz Präsenz, Reglementen und neuen Erkenntnissen bleibt der Kern unverändert: Wo Sucht, Armut und Verzweiflung zusammentreffen, entstehen Grauzonen, in denen Schutzmechanismen lückenhaft greifen. Der Kreuzstutz zeigt exemplarisch, wie sich Abläufe kaum sichtbar in digitale und mobile Nischen verlagern – und wie begrenzt reine Repression wirkt. Zwischen dem Bedürfnis der Anwohnenden nach Ruhe, den riskanten Wünschen einzelner Freier und der Not der Betroffenen bleibt der Drogenstrich ein Symptom ungelöster Fragen – mitten in Luzern.