Strassenstrich Ibach im Fokus der Politik

Im abgelegenen Industriegebiet von Ibach arbeiten zahlreiche Frauen auf dem Strassenstrich – oft unter gefährlichen Bedingungen. Immer wieder kommt es zu Übergriffen und bedrohlichen Situationen. Nun will die Politik handeln und für mehr Sicherheit sorgen. Bei den betroffenen Sexarbeiterinnen stösst das Engagement jedoch auf gemischte Reaktionen.

Lustmap Redaktion
26. 6. 2025
Einmündung Reusseggstrasse / Industriequartier Ibach
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Einmündung Reusseggstrasse / Industriequartier Ibach

Feierabend im Industrieviertel Ibach: verwaiste Parkplätze, ein geschlossener Imbisswagen und eine Mitarbeiterin einer ansässigen Firma, die als letzte ihr Büro verlässt und mit dem Auto davonfährt. Ein paar Meter weiter, an der Rechtskurve der Reusseggstrasse, stehen zwei rauchende Frauen und unterhalten sich. Dass jemand vorbeikommt, lässt sie aufhorchen – sie rufen etwas hinüber. Denn während die grosse Mehrheit der Stadt um acht Uhr abends ihren Feierabend geniesst, beginnt ihre Schicht erst noch. Hier, auf dem Strassenstrich im Ibach, verdienen sie als Sexarbeitende ihr Geld – und ihre Arbeit verrichten sie bei Nacht.

So unscheinbar das Industrieviertel in den frühen Abendstunden wirkt – in der Vergangenheit hat es traurige Berühmtheit erlangt. 2014 wurde eine hier arbeitende Frau gar ermordet – der Tatort ist weiter unbekannt. Ihre Leiche trieb im Vierwaldstättersee, bis ein Spaziergänger sie in Stansstad fand. Der Fall ist noch immer ungelöst. Um neue Hinweise zu erhalten, wand sich die Nidwaldner Kantonspolizei diesen Februar gar an die deutsche Fernsehsendung «Aktenzeichen XY … ungelöst».

Neue Wege für alte Probleme

Auch im Luzerner Stadtparlament war der Strassenstrich jüngst Thema. Im Mai reichten die beiden Mitte-Grossstadträte Luzi Andreas Meyer und Senad Sakic-Fanger das Postulat «ein Dach für Sexarbeitende» ein, das unter anderem eine Verlagerung vom Strassenstrich in der Reusseggstrasse im Ibach, hin zu einem sichereren Ort forderte. Im besten Falle kombiniert mit einem sogenannten «Laufhaus», in dem Sexarbeitende ein Zimmer anmieten können. Das Postulat wurde teilweise entgegengenommen.

Konkret wird nun in den fünf grossen Luzerner Agglomerationsgemeinden nach einem passenden Standort gesucht. Dafür verantwortlich ist der regionale Gemeindeverband LuzernPlus. Wie Flavio Desax, Projektleiter Kommunikation bei LuzernPlus, auf Anfrage mitteilt, ist das Ziel, bis Ende Jahr erste Resultate vorliegen zu haben.

Die Politik hat also entschieden: Das Industriequartier Ibach als Standort für den Strassenstrich ist unhaltbar. Ob der Umzug tatsächlich realisiert wird und welche Standorte dafür infrage kommen, ist noch unklar. Höchste Zeit also, jene zu Wort kommen zu lassen, die eine Verlagerung des Strassenstrichs direkt betrifft: die Frauen welche täglich vor Ort ihre Sexdienstleistungen anbieten.

«Gefährlich, aber zumutbar»: Einblicke in den Alltag

Erste Anlaufstelle ist der Verein Lisa, der ein Gespräch mit den Frauen vermittelt. Treffpunkt: Montagabend, 20 Uhr, beim Container an der Reusseggstrasse.

Den Container hat Lisa den Sexarbeitenden 2013 zur Verfügung gestellt. Eine schwarze Couch steht drin, zwei Sessel, ein Kaffeetisch und ein kleiner Kühlschrank. An der Wand hängt ein Poster der Mona Lisa. Es riecht nach Kapselkaffee und Parfüm. Auf beiden Seiten des Containers sind die Türen geöffnet, Zigarettenrauch zieht hinein. Die Frauen sitzen eng gedrängt auf dem Sofa, einige haben sich noch einen Stuhl herangezogen oder stehen qualmend im Türrahmen. Im Container ist das Rauchen verboten. Sie alle sind für ihre Schicht zurechtgemacht, haben sich geschminkt und tragen enge Kleidung. Die meisten von ihnen kommen aus Ungarn oder Bulgarien und sind schon mehrere Jahre in der Schweiz tätig. Alle von ihnen sprechen Deutsch.

Die Gesichter der Frauen wirken anfangs wie zugeklappt, die einzigen Emotionen, die sie zeigen, sind Augenrollen oder ein verächtliches Lächeln. Mit einem Medienvertreter zu sprechen behagt ihnen ganz und gar nicht. «Ihr macht uns das Geschäft kaputt», werfen sie vor. In den Zeitungen sei immer nur von der Unsicherheit auf dem Strassenstrich die Rede – und davon, dass die Frauen illegal hier seien, schwarz arbeiten würden und alle einen Zuhälter hätten. Das wirke sich direkt auf ihr Geschäft aus – durch die Berichterstattung bleiben die Freier aus.

Laut den Frauen sei die Realität im Vergleich zu der in den Medien beschriebenen eine ganz andere. Alle hier haben gültige Papiere, sind selbstständig und zahlen Steuern. Das kann auch Eliane Burkart, Geschäftsleiterin des Vereins Lisa, bestätigen.

Die Arbeit auf dem Strassenstrich bezeichnen die Frauen als «gefährlich, aber zumutbar». Um das Risiko zu minimieren, haben sie bestimmte Taktiken entwickelt. So notieren sie zum Beispiel immer die Nummernschilder der Autos der Freier und achten genau auf die Männer. «Du lernst es zu erkennen, wenn ein Mann gefährlich oder aggressiv werden könnte», sagt eine Frau. Am wichtigsten sei es aber, im ständigen Austausch untereinander zu stehen.

Trotzdem ereignen sich immer wieder Vorfälle, berichten sie. So sei es schon vorgekommen, dass ein Freier eine Frau bis über die Kantonsgrenzen verschleppe und an einem verlassenen Ort herauslasse. Den Weg zurück müssen die Frauen allein organisieren. Auch wenn der Wald hinter Ibach angesteuert werde, könne es gefährlich werden. «Da ist niemand, der dich hören kann.»

Zwischen Risiko, Strategie und Standortdebatte

Trotz aller Risiken: Das Anschaffen auf dem Strassenstrich ist für die Frauen finanziell attraktiver, als wenn sie in einer Sexbar, wie beispielsweise dem Café Nizza, arbeiten würden. Dort müssten sie noch die Raummiete abdrücken. Auch ein Grund, weshalb Sexarbeit für sie nur im Kontext eines Strassenstrichs Sinn ergibt. Sie verdienen hier gutes Geld. Wie viel genau, das wollen sie nicht verraten. Nur so viel: Die Antwort auf ihre Gegenfrage, was ein Journalist im Volontariat denn verdient, versetzt einige von ihnen in mitleidiges Gelächter.

Ihre anfängliche Zurückhaltung ändert sich mit zunehmender Gesprächsdauer. Es wird durcheinandergeredet, jede der Frauen will erklären, wie die fehlende «Diskretion» von Medien und Politik ihr Business störe und sich das direkt auf ihre Einkünfte auswirke. Als «Katastrophe» bezeichnen sie auch den Aufruf von «Aktenzeichen XY … ungelöst». «Das hat unser Geschäft kaputt gemacht, es sind weniger Kunden vorbeigekommen», sagt eine der Frauen. Der Mordfall sei mittlerweile über zehn Jahre her, dass er jetzt noch einmal medial aufgerollt werde, versteht hier niemand. Der Name des Opfers dagegen ist allen ein Begriff. Andächtig wird Emiliya erwähnt. Manche kennen sie noch von damals, standen gemeinsam mit ihr auf der Strasse, erst auf dem ehemaligen Strich im Tribschenquartier, später in Ibach.

Im Gespräch werden die Risiken fast schon heruntergespielt. Das scheint Kalkül zu haben: Die Kundschaft soll nicht noch weiter vergrault werden. Denn hier handelt es sich um knallharte Geschäftsfrauen, die ein ökonomisches Verständnis aufweisen, dem sie auch ihre persönliche Sicherheit unterordnen. Im Laufe des Gesprächs blitzen dann doch einige Indizien auf, die dafür sprechen, dass ein neuer, sicherer Arbeitsort vielen der Frauen genehm wäre. So wird mehrmals angesprochen, dass der ehemalige Strassenstrich im Tribschenquartier ideal gewesen sei. Soziale Kontrolle ist hier das Stichwort.

Auch für Luzi Andreas Meyer, Verfasser des Postulats «Ein Dach für Sexarbeiterinnen», wäre eine Verschiebung des Strassenstrichs hin zu einer belebteren Ecke der Stadt optimal. Doch dazu müsse das Reglement über die Strassenprostitution von 2011 erst angepasst werden. Dieses besagt unter anderem, dass käuflicher Sex nicht in der unmittelbaren Nähe von Wohnquartieren angeboten werden darf.

Hier will Meyer ansetzen. Würde das Reglement angepasst, könnte sich der Strassenstrich wieder in eine urbane Gegend verlagern – so wie früher im Tribschenquartier. Diesen Sommer sollen Sondierungsgespräche mit den verschiedenen Fraktionen stattfinden, in denen die Möglichkeit ausgelotet wird, eine entsprechende Reglementsänderung vor den Grossen Stadtrat zu bringen. Sollten die Gespräche fruchten, werde der Vorstoss noch diesen Sommer eingereicht.

Falls eine Reglementsänderung nicht infrage käme, sei auch eine komplette Abkehr von einem Luzerner Strassenstrich hin zu einem reinen Laufhausmodell denkbar, sagt Meyer.